Hinter dem Schrecken des Dämons namens Wut
Als wie süß würdest Du Dein Leben einem Fremden beschreiben?
Auf einer Skala von 0 – „ziemlich ernst“ bis 10 – „viel Freude in meinem Alltag“.
Sieht man Dir die (fehlende) Süße in form glücklicher Lachfalten oder alternativer Wonnekügelchen auf der Hüfte an? Was ich damit meine, erschließt sich noch im Laufe des Beitrags.
Inwiefern hast Du Dein Leben äußerlichen Normen und Erwartungshaltungen angepasst? Gestehst Du es Dir zu, auch einmal traurig oder wütend zu sein? Ich meine nicht nur innerhalb Deiner Familie, sondern innerhalb Deines ganzes Umfeldes.
Gibt es Tage oder bestimmte Orte in Deinem Leben, an denen Du es Dir erlaubst auch manchmal VOLL-UMFÄNGL-ICH (!) Du selbst, also VOLLER (!) Wut, Traurigkeit oder gar kindlich verspielter Freude zu sein?
Wie reagierst Du innerlich auf diese Frage?
Tust Du es, hältst Du es für einen überlegenswerten Denkansatz oder sträubt sich gerade alles gegen einen solchen Schmarrn?
Selbst aus mancherlei Denkschule psychologischer Herkunft wird gern recht transaktional das „Kindheits-Ich“ als unbearbeitetes Überbleibsel in seine versäumten Erziehungsschranken zurück verwiesen (ab und an berechtigt, manchmal zu pauschal).
Mir ging es früher immer so, dass meine innere Rationalistin Aussagen wie „lebe das Kind in Dir“, „steh‘ zu Dir“ etc. als Pillepalle abtat.
Wut im Einklang mit der Gesellschaft
„So ein Quatsch“, dachte ich und denken viele.
- „Das ist doch wieder nur irgend so ein Blödsinn von der kindsköpfigen Fraktion, die nicht gelernt haben, den Ernst des Lebens zu erkennen. Völlig jenseits der Realität. Wo würden wir denn hinkommen, wenn alle Menschen so drauf wären? Was würden denn die Leute von mir denken, wenn…“,
- „Wie käme es bei meinen Firmenkunden an, wenn …?“
- „Was würden meine Vorstandsbeisitzer im Gewerbeverband denken, wenn …?“
- „Welch wohl falscher tiefer Ausschnitt oder das oberarmfreie Tattoo, kämen bei der partnerschaftlichen Familie an, wenn …?“
Ja, was wäre eigentlich wenn?
Wenn die Menschen damit beginnen würden, ab und an total verrückte Sachen zu machen und zum Beispiel ihre Emotionen zeigten?
Was würde schlimmstenfalls passieren?
Ich frage mich, ob die rationelle Denkhaltung zweier kriegerischer Gegner nicht ursächlicherer Art ist und ob nicht eher der Spaß, die Unbefangenheit und kindliche Freude eines Menschen zielführender wären.
Mich hat es vor einigen Jahren sehr erschreckt, als ich mit meinen Kindern ausgelassen im Wohnzimmer tanzte und feststellte, wie viele Jahre ich das schon nicht mehr getan hatte.
Ich hatte mit der Zeit so viele „Do’s and dont’s“ unserer Gesellschaft verinnerlicht, dass ich selbst noch als Coach ständig darauf bedacht war, nicht aus dem Rahmen zu fallen. Immer schön brav sein, dies nicht, das nicht, jenes schon gleich dreimal nicht.
Und erst recht nicht vermeintlich negative Verhaltensweisen.
Meine Wut nach außen kommunizieren? Auweia, sowas macht „man“ nicht. Frau offenbar noch viel weniger.
Tat ich es im privaten Umfeld beispielsweise als Servicekundin doch manchmal, weil ich meine Berliner Brummelschnauze halt auch nicht immer in den Bayernkäfig sperren konnte, schämte sich mein früherer Partner in Grund und Boden und ließ mich überdeutlich wissen, dass dieser Vogel zu Unrecht piepte.
Perfektes Vorbild
In der therapeutischen, coachenden und spirituellen Beratungslandschaft gelten unangenehme Verhaltensweisen noch sehr viel mehr als „No Go“, als unbearbeitete Schatten und der wachsenden Heiligkeit als unzuträglich.
In einem meiner Selbsterfahrungsprozesse (die wir als Coach durchlaufen müssen) merkte ich eher nebenbei, wie sehr ich auf das Wort „Verbissenheit“ reagierte. Es war, als wenn da etwas ganz vorsichtig um die Ecke in den Spiegel schaute.
Eine ganz zarte Stimme in mir wagte den Gedanken, ob ich möglicherweise nicht auch ein wenig zu verbissen sein könnte?
Prompt viel mir im Umgang mit meinen Kindern auf, wie starr und wenig flexibel ich meine gezogenen Grenzen mit ihnen umsetzte.
Wann hatte ich es denn überhaupt je gewagt, völlig losgelöst und ausgelassen zu sein? Ich hatte dem Steinbock in mir stets alle Ehre bereitet, war in der Öffentlichkeit die wortwörtliche Selbstbeherrschung. Nie hätte ich es dort gewagt, meine Gefühle zu zeigen. Das ginge als Coach ja nun mal auch gar nicht. Von uns wird nicht nur verständlicherweise hohe Professionalität erwartet, sondern auch das eigene Leben perfekt im Griff zu haben (dass meine Kunden sich bei mir gut fühlten, gerade WEIL ich dort offen und ehrlich mit meinen Gefühlen umging, erkannte ich erst ein paar Jahre nach diesem Artikel :o) ).
Nach und nach fühlte sich das für mich immer falscher, immer unnahbarer, illusorischer an. War es wirklich so falsch, auf allen Ebenen meiner Existenz die stete Kontrolle zu zeigen, Worte wie Stress und Wut zu meiden, wie der Teufel den Spiegel?
Gelebte Wut versus Normfacette
Ich wagte ein Experiment. Ich schrieb in einem Facebook-Post „öffentlich“ als ich einmal wieder tatsächlich wütend war.
Eine besonders delikate Form der Selbsterfahrung :-).
Interessanterweise reagierten mehr private Kontakte total verständnisvoll, fast dankbar, das ich einmal auch diese Seite gezeigt hatte, als die beruflichen.
Einige begannen offen oder per PN an mir „herumzudoktern“, die Wut und deren Herkunft zu deuten und mir Vermutungen darüber überzustülpen, woran ich noch „arbeiten“ müsse.
Ich frage mich, in wie vielen methodischen Ausbildungen tatsächlich Persönlichkeitsdiagnostik, eigene Glaubenssatzarbeit und Selbstreflexion auf dem Übungsprogramm stehen.
Seit dieser Erfahrung achtete ich noch bewusster auf den Umgang der Menschen (und auch mir selbst) auf offen ausgedrückte Empfindungen. Dabei stellte ich fest, dass es in unserer Gesellschaft einfach nicht geduldet wird, seine Gefühle offen zu zeigen.
Selbst ich neige dazu, allzu heftige Wutausbrüche meiner Kinder in ihrem Geräuschausmaß einzubremsen. Vor allem, weil sie mich extrem stressen (das Leid der Hochsensiblen). Aber dies für mich persönlich zu verstehen*, ändert ja leider nichts an der heutzutage gesellschaftlich „gültigen“ Denke zur Kindererziehung.
Für mein Empfinden wird mittlerweile im Umgang mit Kindern nämlich die sehr gewährende Erziehungshaltung als Wunschnorm gepredigt. Mir erweckt es manchmal den Eindruck, dass Streitereien zwischen Eltern und Schimpfen mit einem Kind bereits zu angedichteten Traumatas führen, deren weitere Entwicklung noch spannend sein dürfte. Sehr interessant, was mir Arbeitgeber schon heute über heutige Azubis berichten!
Früher gab es die Unterscheidung zwischen Temperament und Wahnsinn. Nach unserer heutigen Norm müsste man ganz Italien in eine Gummizelle stecken!
Mir ist jedoch nicht bekannt, dass Italiener einen besonders häufigen Therapiebedarf wegen ihres bekanntermaßen stärkeren Temperaments hätten (*Klischéeschubladen wieder aus*).
Wohin führt all die Wutunterdrückung?
Dass immer mehr Menschen alle Regungen in sich hinunterschlucken, sich nicht mehr als gesellschaftsfähig einordnen (siehe dazu auch mein Artikel „Rücktritte schaden unserer Gesellschaft„) und sich immer mehr zurückziehen. Sie fühlen sich fehl am Platz, unwichtig und manche von ihnen werden nicht ausschließlich, aber auch nicht zuletzt deswegen übergeWICHTIG!
Wir verhalten uns und werden sprichwörtlich alle immer steifer und starrer in der Wahrnehmung von Menschen, bedienen immer mehr Schubladen und übersehen die bunte Kommode.
Aus diesem Grund möchte ich Dich anregen, Dir ruhig auch mal „den totalen Quatsch“ zuzugestehen. Wenn Du den Drang hast, etwas zu tun, dann hat der Drang in der Regel einen Grund. Teste doch mal aus, ihn zuzulassen. Du brauchst deshalb nicht wild den ganzen Straßenverkehr an zu hupen oder anzufangen mit pinken Auto-Wimpern durch die Gegend zu fahren, wie ich damals, um den Menschen Mut zu machen und ein spontanes Lächeln aus ihnen zu zaubern. Das war mein verrücktes Ding.
Aber was genau ist „Dein Ding“?
Du solltest natürlich nicht extrovertiert handeln, wenn Du ein stiller Typ bist, genauso wenig Deine Wut rauszubrüllen, wenn es Dir anders viel besser bekommt. Aber möglicherweise genauso wenig runterzuschlucken, bloß weil es „die Gesellschaft“ von Dir erwartet.
Klar, bestimmte Reaktionen könnten in Deinem Umfeld unangebracht sein, weil nur wenige so weit sein werden wie Du selbst oder sich zumindest nicht im Detail mit Deinen Hintergründen befassen können. Und damit gilt es dann doch wieder, sich innerhalb einer Grundnorm anzugleichen.
Oder?
Es gibt hier kein „a oder b ist richtig“. Ich möchte Dich nur anregen, darüber nachzudenken und zumindest jene Dinge in Frage zu stellen, bei denen Du merkst, dass sie DIR nicht gut tun.
Wenn Du ein temperamentvoller Typus bist, ist dies in Ordnung und niemand hat das Recht, Dich zu kritisieren.
Wo kannst Du Dich in Deinem Rahmen frei entfalten, einfach mal vollkommen irre, doof, irrationell, verspielt, verrückt sein?
Zum Beispiel im Wohnzimmer versuchen in allen Tierarten zu tanzen?
Einem „Warum“-Kind keine Antwort im Erwachsenenmodus geben, sondern innerhalb seiner Fantasiewelt vielleicht.
Vogelwild auf ein Papier kritzeln, durch Pfützen stampfen, im strömenden Regen spazieren gehen, auf dem Trambolin eines Kindes schlafen, wildfremden Menschen eine nette Botschaft an die Autoscheibe pinnen … .
Dir fällt bestimmt etwas ein, das für Dich und Deinen aktuellen Mutfaktor gerade total passt.
Gefühle freie Fahrt voraus
Was passiert mit Deinen Gefühlen, wenn Du sie tatsächlich einfach nur zulässt? Ohne Bewertung.
Möglicherweise brauchst Du dann gar keine gesonderten Kanäle wie den sprichwörtlichen Boxsack mehr.
Wut – kraftvolles Entspannungsventil
Wenn doch, dann lass Dir Deine Wut (oder welches andere Gefühl auch immer) nicht kleiner reden, als es in Dir vorhanden ist und suche Dir Möglichkeiten des Ausdrucks.
Was hast Du als Kind getan, wenn Du wütend oder traurig warst? Gibt es irgendetwas, das Dir heute genauso Ventil sein könnte?
Wenn Du es für richtig hältst, dann steh‘ zu Dir und Deinen Gefühlen. Das wird ganz viel Süße in Dein Leben (zurück) bringen oder diese vermehren, quasi die Sahne in der Zuckersuppe. Davon bin ich überzeugt! Dann braucht Dein Körper nicht auf andere Art darum betteln, beachtet zu werden.
Erst wenn Du merkst, dass Streitereien und Gefühlsausbrüche Dir und Deinem Umfeld gar nicht mehr gut tun, wenn automatisierte Selbstläuferprogramme ablaufen, die Dir schaden, dann kann ein Coach hilfreich für Dich sein.
Tabuthema häusliche Gewalt
Was ist nun aber, wenn das Thema Wut übers Ziel hinaus schießt und sich in Gewalt ausdrückt?
Dies kommt hinter geschlossenen Türen leider häufiger vor, als den meisten Menschen bewusst.
Wenn unbearbeitete Traumen in Dir (oder Deinem Partner) stecken oder jemand anders durch Dein Verhalten zu Schaden kommt, weil Deine Wut oder andere Gefühle zu Gewalt werden, dann ist psychologische therapeutische Hilfe wichtig. Es ist weder unmenschlich, noch verwerflich Fehler zu machen. Nur diese zu ignorieren.
Da dies tatsächlich andere Hintergründe und Auswirkungen als die Wut an sich hat, werde ich dies möglicherweise in einem eigenen Blogartikel thematisieren. Hier an dieser Stelle möchte ich jedoch schon einmal dringend appellieren, Dir Hilfe zu suchen. Sowohl wenn Du Opfer, Mitwisser/in oder Gewaltanwender bist, gibt es gute, wichtige und professionelle Hilfe.
Opfer finden u.a. beim Weissen Ring Hilfe. Als wütender Verursacher von Gewalt, sei eine Therapie angeraten. Informiere Dich beispielsweise bei Deinem Hausarzt, der Telefonseelsorge oder dem Programm „Kein Täter werden„, wenn es sich sogar um sexuelle Gewalt an Kindern handelt.
Siehe hierzu auch diesen Artikel über häusliche Gewalt.
Wut als Entspannungstraining
Zwei letzte Facetten der Wut möchte ich abschließend nicht unerwähnt lassen.
Wut hat neben den rein mentalen Gründen, weil uns ein Mensch beispielsweise sprichwörtlich in den Wahnsinn treibt, auch noch andere Ursachen.
Diese haben manchmal mit einem Mangel zu tun.
Die weiter oben schon erwähnte Süße des Lebens kann es ebenso sein, wie Nährstoff- oder Entspannungsmangel.
Je umtriebiger unser Leben läuft, das ordnungs- und erwartungsgemäße Abarbeiten unserer Todo-Listen, um so anfälliger werden wir.
Unser Körper braucht Ruhe- und Entspannungsphasen, Faulheit, Bequemlichkeit. Die Natur nutzt und funktioniert über Jahreszeiten. Nur der Mensch glaubt allen ernstes neuerdings an 24/7/365. Das ist auch nach Unterscheiden von Charakter- und Anspruchstypen entgegen unserer Natur!!
Gönn‘ Dir also gezielt Auszeiten ohne Todo-Listen, Medien- und Handybeschallung.
Wie viele Tage könntest Du ohne schlechten Gewissens alle Geräte und Nachrichten ausschalten?
Wut hat enorm viel mit unserem Stresslevel gemeinsam. Wenn unser Körper im Dauerstress Cortisol durchtränkt pulsiert, sind Wutausbrüche eine rein biochemische Folge.
Wenn wir darüber hinaus wenig bis keinen Sport treiben und keinerlei Vitamine und andere notwendige Nährstoffe zuführen, fehlt unserem Körper das Material, seinen Stresslevel abzubauen. Daher können häufige Ausraster und Lärmempfindlichkeit auch einen Vitaminmangel anzeigen.
Höre auf Deinen Bauch und denk‘ dran: Du hast mehr drauf als fremde Erwartungen!
Wut als Charaktertyp
Vielleicht bist Du schlichtweg ein zur Wut neigender Charakter. Dann brauchst Du nichts weiter als einen schönen Batzen Selbstannahme. Denn möglicherweise hast Du Wut als Reaktionsmuster gelernt und Dich so sehr daran gewöhnt, dass Du es nicht mehr weiter hinterfragst. Doch gelernte Verhaltensweisen kann man ändern. Sofern sie stören. Denn wie oben bereits dargelegt, ist jegliches Wegsperren unserer Gefühlsreaktionen auch nicht ideal (und kaum gesund).
Betrachte all Deine emotionalen Reaktionen wie eine innere Ampel. Sie hat die Aufgabe, Dinge zu verarbeiten und Dir zu zeigen, ob Dein System auf grün oder rot läuft.
Wer sich seiner persönlichen Motive bewusster werden und sich und andere besser verstehen möchte, kann sich gern auch eines Persönlichkeitstests bedienen. Nach einem solchen Test wirst Du Dich und die Welt möglicherweise mit neuen Augen sehen.
MUTivierende Entspannungsgrüße von Tanja
PS: Wie gehst Du mit Deiner Wut um? Beschreib mir gern Deine Empfindungen in den Kommentaren. Wenn Dir der Artikel gefällt, würde mich Dein Like oder Teilen riesig freuen! Denn damit unterstützt Du meine Arbeit und vielleicht den einen oder anderen Deiner Kontakte. Für die meisten Menschen ist es sehr befreiend, eigene Bedürfnisse und Alltagshürden unterstützt mit neuen Augen wahrzunehmen.
Textquelle & Copyright: Tanja. Trotzdem
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Dieser Artikel wurde schon am 6.12.2021 auf einer meiner alten Seiten veröffentlicht.